- Materialentwicklung
- Interview
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Die wichtige Rolle von PVC in der Medizin und Medizintechnik
Die Hersteller medizinischen Schläuchen und Geräten befassen sich vor Beginn der Entwicklung eingehend mit den eingesetzten Materialien. Im Bereich der Kunststoffe war Polyvinylchlorid, also PVC, für viele medizinische Anwendungen die erste Wahl. Doch heute rücken zunehmend andere Materialien in den Fokus. Dr. Ralf Ziembinski, Head of Product Development Compounds & Extrusions bei Raumedic, spricht mit uns über alternative Werkstoffe und die ungebrochene Nachfrage nach medizinischem PVC.
Dr. Ralf Ziembinski, Leitung Geschäftsbereich Tubing bei RAUMEDIC Die wichtige Rolle von PVC in der Medizin und Medizintechnik
Definition: Was ist medizinisches PVC?
PVC steht für Polyvinylchlorid. Es ist ein Polymer, das hauptsächlich aus Chlor besteht. Durch den Zusatz von Weichmachern wird der Kunststoff PVC weich und geschmeidig. Dies sind zwei der begehrtesten Eigenschaften für Medizinprodukte.
Warum steht die Verwendung von PVC in Medizinprodukten in der Kritik?
Hier muss man stark differenzieren. Im Umfeld der Medizintechnik und von Medizinprodukten dreht sich die Kritik meist um die Weichmacher im Material PVC. Es ist erwiesen, dass DEHP bzw. DOP reproduktionstoxische Eigenschaften aufweist und vergleichsweise leicht herausgelöst werden kann. Um dieses Risiko zu auszuschließen, verwenden wir bei Raumedic schon seit einigen Jahren DEHP-freie und Phthalat-freie Weichmacher , wie zum Beispiel noDOP (TEHTM). Bei ihnen ist die Wahrscheinlichkeit einer Migration um den Faktor 100 geringer.
Auch die EU-Kommission handelt: Die bisherige Ausnahmeregelung, die den in Verruf geratenen Weichmacher aktuell noch für Blutbeutel und Transfusionsschläuche zulässt, wird ab Inkrafttreten von Anhang XIV der REACH-Verordnung nur noch bis voraussichtlich 2025 zum finalen Sunset Date gelten.
Was spricht für den Einsatz von PVC in Medizinprodukten?
PVC ist besonders für den Einsatz in medizinischen Kunststoff-Einmalprodukten sehr geeignet. Das Material ist kosteneffizient, lässt sich gut weiterverarbeiten und hat sich über Jahrzehnte bewährt. Während in der Anfangszeit der Medizintechnik Werkstoffe wie Glas und Gummi zum Einsatz kamen, hat PVC dazu beigetragen, die Gesundheitsversorgung besser und sicherer zu machen. Das Material – vorausgesetzt es handelt sich um DEHP-freie Medical-Grade-Qualität – ist nämlich auch sehr gewebe- und blutverträglich.
Dass sich PVC-Bauteile und -Komponenten vor ihrer Verwendung außerdem hervorragend sterilisieren lassen, ist im klinischen Umfeld ebenfalls extrem wichtig. Denn niemand möchte Infektionen durch Keime riskieren.
Wird PVC auch in Zukunft eine entscheidende Rolle für medizinische und pharmazeutische Anwendungen spielen?
Das ist vor allem eine Kostenfrage. Wenn sich alternative Werkstoffe mit ähnlicher Preisstellung und vergleichbaren Eigenschaften am Markt durchsetzen, könnten diese PVC langfristig ersetzen. Andernfalls würde das Gesundheitssystem stärker belastet.
Wir glauben daher, dass PVC in der Medizintechnik und für die Pharmaindustrie auch in Zukunft eine gewisse Daseinsberechtigung haben wird. Die Eigenschaften und technischen Faktoren sind nicht von der Hand zu weisen:
- Biokompatibilität
- Sterilisierbarkeit
- Flexibilität
- Transparenz
- Festigkeit
- Geringer Kostenfaktor
Welche Wirkstoffe sind PVC unverträglich?
Kommt PVC direkt mit Medikamenten in Berührung, müssen etwaige Wechselwirkungen im Vorfeld genau überprüft werden. Denn es gibt tatsächlich einige Wirkstoffe, darunter Taxol, Nitroglycerin, Diazepam oder auch Insulin, die PVC-unverträglich sind.
Die Problematik hat hier oft zwei Facetten: Zum einen können Hilfsstoffe in der Medikamentenlösung dafür sorgen, dass sich Weichmacher aus dem Material herauslösen. Zum anderen lagern sich bestimmte Medikamentenwirkstoffe an der PVC-Oberfläche ab. Mit dieser Adsorption gehen dann unerwünschte Wirkstoffverluste, also eine geringere Dosierung, einher.
Die steigende Nachfrage nach Alternativen zu medizinischem PVC
Schon heute fragen uns mehr und mehr Kunden nach PVC-Alternativen, was oftmals durch die Anforderungen der Kliniken getrieben wird. Dieser Trend wird sich sicher noch verstärken. Eine komplette Umstellung hin zu PVC-freien Materialien in Medizinprodukten dürfte meiner Einschätzung nach aber ein langwieriger Prozess werden. Die Hersteller und auch der Markt müssten sich auf höhere Preise für die alternativen Werkstoffe einstellen.
Welche Alternativen zu PVC gibt es für Medizinprodukte?
Hier haben wir einige Möglichkeiten. Für die Entwicklung einer neuen Tropfkammer haben wir zum Beispiel TPE verwendet. Für medizinische Schläuche können wir Soft-PP anbieten, insbesondere dann, wenn eine optimale Medikamentenverträglichkeit gefragt ist. Denn Polypropylen kommt, übrigens ebenso wie Polyurethan, ohne Weichmacher aus. Darüber hinaus sind die Materialeigenschaften denen von PVC sehr ähnlich.
Wird eine preisgünstigere PVC-Alternative gesucht, kann die Coextrusion eine Lösung darstellen. Wir haben in diesem Bereich einen medizinischen Zweischichtschlauch aus EVA und Styrol-Butadien-Kautschuk (SBR) entwickelt. Da sich die Außenschicht mit UV-absorbierenden Additiven ausstatten lässt, können damit auch lichtempfindliche Medikamente, wie Chemotherapeutika, optimal verabreicht werden. Mit dem Farbpigment kommt der Wirkstoff dank der transparenten Innenschicht nicht in Kontakt. Die äußere Schlauchschicht aus SBR lässt sich außerdem gut verkleben, was für die Weiterverarbeitung eine große Rolle spielt.
Für welche Medizinprodukte eignen sich diese PVC Alternativen besonders?
Da gibt es viele. Unsere Coextrudierten Schläuche aus EVA und SBR und die TPE-Tropfkammer sind ideal für Schwerkraft-Infusionssets und enterale Überleitsets. Beispielsweise, wenn Ernährungslösungen oder Medikamente parenteral oder enteral verabreicht werden. Auch im Bereich der Transfusion könnten diese PVC-freien Materialien eingesetzt werden. Soft-PP eignet sich wiederum gut, um PVC-Schläuche in Infusionspumpen und für besonders empfindliche Medikamente zu ersetzen.
Dr. Ralf Ziembinski
Dr. Ralf Ziembinski leitet den Bereich Product Development Compounds & Extrusions bei RAUMEDIC. Schon während seines Post-Doc-Studiums an der University of Toronto hatte sich der promovierte Chemiker auf die Erforschung anorganischer Polymere spezialisiert, bevor er sein Wissen ab 2004 bei RAUMEDIC einbrachte.